Von Figuren und Menschen

Seit vielen Jahren widmet sich Rolf Blaser der figurativen Malerei. Damit ist nicht allein auf seine realistische Ausrichtung, sondern zugleich auf sein Hauptmotiv angesprochen: die menschliche Figur. Fast immer gestaltet er sie aus der Erinnerung; zur Not dient ihm das Spiegelbild des eigenen Körpers als Anhaltspunkt. Eigentliche Modelle braucht er nie, und nur selten bezieht er sich auf Fotos, um der Gefahr einer vorschnellen Fixierung zu entgehen. Seine nackten Figuren lassen sich weder der Porträtmalerei noch einer klassischen Aktmalerei zuordnen. Rolf Blasers Bildwelt ist vielmehr in einem spannenden Zwischenbereich angesiedelt, wo die Verbindlichkeit der Bildnismalerei auf die malerische Brillanz einer hoch differenzierten Inkarnatmalerei stösst, sich Form und Inhalt, Künstlichkeit und glaubhaftes Abbild begegnen, widersprechen oder verbinden, zuweilen aber auch gegenseitig auflösen.

Obwohl die Erfassung des Körpers - von Haut und Haar, Mimik und Gestik - eine Gleichzeitigkeit von Aussen- und Innenschau ermöglicht, führt die bewusste Unentschiedenheit zu seltsam fremden und befremdenden Figuren. Rolf Blaser spricht denn auch von Collagen. Aus verschiedensten Beobachtungen und Erinnerungen habe er seine Motive zusammengesetzt, ja eigentlich erfunden. Der Mensch wird nicht mehr abgebildet, sondern neu geschaffen, bis hin zu seinen künstlichen Gebärden. Ein solches Gestalten ist im Zeitalter des Klonens und der virtuellen Realität zwar wenig erstaunlich, doch verbindet es sich bei Blaser mit einer teils altmeisterlichen, teils expressiven Tonmalerei, die der gegenwärtigen Kunst diametral entgegensteht. Die sinnliche Wirklichkeit der Malerei unterläuft die Künstlichkeit der Figuren. Und wieder ist eine Patt-Situation geschaffen, die den Betrachter in einen Schwebezustand zwischen Einfühlung und Distanzierung führt.

Das Befremden von Rolf Blasers Werken ist vielfach begründbar. Da ist die besagte Orientierung an Beispielen der Kunstgeschichte zu nennen, an den nordischen Meistern von Spätgotik und Renaissance, an Albrecht Dürer und Rembrandt, Otto Dix und Alfred Hrdlicka, an der realistischen Tradition der Figuration, die zumal in der Malerei der ehemaligen DDR noch lange weiterlebte, etwa in der bizarren Bildwelt von Volker Stelzmann, die Blaser besonders prägte. Der vielfach vorgebrachte Vergleich mit dem englischen Maler Francis Bacon dagegen ist bei näherer Betrachtung weniger stichhaltig als angenommen. Zwar findet sich eine ähnliche Grundstimmung, die vor allem von der räumlichen Gestaltung, der Betonung der Vereinzelung der dargestellten Figuren ausgeht, doch differiert ihre stilistische und menschliche Erfassung. Während Bacon von bestimmten Modellen ausgeht, um in gestischer Verdichtung vom Individuellen zur grundsätzlichen Existenz des Mensch-Seins zu gelangen, malt Blaser von vornherein erfundene Figuren, die durch ihre Multiplikation und geschwisterliche Ähnlichkeit an Individualität zusätzlich einbüssen. Bacon ist ein typischer Vertreter des Existentialismus, Blasers Malerei dagegen setzt mit der Zeit der Postmoderne ein, ohne ihr wirklich anzugehören. Während er wie diese die Künstlichkeit der Kunst, die Bezüge zur Kunstgeschichte zwar betont, bleibt er im Unterschied zu den postmodernen Ironikern seiner Motivwelt innerlich verbunden. So erfunden, ja lächerlich Blasers Figuren zuweilen auch erscheinen mögen, er bleibt ihnen nah, verhindert mit sichtbarer Einfühlung ihre ironische oder zynische Preisgabe. Solche Anteilnahme zeigt sich am deutlichsten bei den kürzlich entstandenen Bildern mit dem Titel Kopffüssler: Fötenhaft zusammengekauert gleichen die nackten Figuren ungeborenen Kindern, verdeutlichen das grundsätzliche Bedürfnis des Menschen nach Geborgenheit.

Blasers typenhafte Multiplikation seiner Figuren hat darum weniger mit einer seelischen Distanzierung als mit der Betonung des Allgemeinen zu tun. Folgerichtig steht denn auch der nackte - der tote wie der lebendige - Körper im Zentrum seiner Bildwelt: „Nackt sind alle Menschen gleich“, über soziale Hierarchien und Zeiten hinweg. Seltsam verwandt erscheinen seine Bilder von Mumien, die er während einer Reise nach Kairo, Ende 1996, in einem Museum entdeckte, und Darstellungen agierender Paare, die sich in steifen Gebärden überlagern, zum skulpturalen Kunstwerk formieren. Kunst und Leben scheinen sich in Blasers Schaffen zu kreuzen; die Frage der Dauer und Endlichkeit geht damit zwingend einher. Die Mumifizierung schenkt dem Körper ewiges Leben, macht den toten Leib zum Kunstwerk, das alle Zeiten überdauert.

Mit dem Motiv des Körpers sind Fragen nach Leben und Lebendigkeit, Alter und Tod verbunden. Die Spuren des Alterns zeichnen sich zuweilen deutlich ab. Doch setzt sich die Lebendigkeit der Malerei der Vorstellung der Endlichkeit kraftvoll entgegen. In Blasers fulminanter Malerei ist das Leben spürbar eingeschrieben. Ob erfunden oder tot, Blasers Kreaturen werden dank ihrer malerischen Erfassung lebendig. Unvergesslich ist die Wucht seines zwei Meter hohen Bildes von zwei geschlachteten, kopfüber hängenden Rindern (Boeufs IV). Ihre Kraft ist den toten Tieren durch Blasers Malerei zurückgegeben. Aber auch der Mensch begegnet uns vor allem als leibliches Wesen: Haut und Muskeln, Schenkel und Brüste, Schoss und Penis - alles ist mit solch direkter Natürlichkeit festgehalten, dass der Zweifel über die abbildliche Wirklichkeit der Dargestellten durch die sinnliche Wirkung der Darstellung wettgemacht wird.

Das Befremden von Blasers Figuren, die in ihren seltsamen Inszenierungen an die verschlüsselte Bildwelt von Max Beckmanns Triptychen erinnern, hat letztlich wohl nicht nur mit ihren rätselhaften Gebärden oder Verdoppelungen als vielmehr mit unserer Unkenntnis über ihr Schicksal zu tun. Offen bleibt die Frage, welcher Geist in diesen Körpern wohnt. So wenig uns von ihrem physischen Menschsein verschwiegen wird, so unbestimmt bleibt ihr Innenleben. Ihre Blicke gehen ins Leere oder konzentrieren sich auf Ziele ausserhalb des Bildes. Bewusst sind die Grenzen verwischt, unklar bleiben ihre Bewegungen zwischen Leiden und Leidenschaft. Ob es sich bei Blasers Figuren um gesunde oder kranke, glückliche oder leidende Menschen handelt, bleibt oft ungewiss. Zwar vermag ihre physische Präsenz zu verführen, ihre innere Verschlossenheit aber verunmöglicht in vielen Fällen eine menschliche Nähe und Verbundenheit. Die Figuren behalten ihre Fremdheit; obwohl aus Fleisch und Blut, werden sie uns nicht zu Menschen. Vielleicht hat Blaser - mehr als andere, die sich mit Coolness auf heutiges Befinden beziehen - den Geist der Zeit erkannt, in der Gefühle der Einsamkeit trotz körperlicher Nähe und sexueller Freiheit mehr als je zuvor das Leben bestimmen.

Einsamkeit und Klaustrophobie, wie sie auch in Blasers Stillleben-Serien Atelier (1998-2001) und Spielplatz (2001) spürbar werden, prägen sein ganzes Schaffen. Im Bild Gitarrist, wohl einem verkappten Selbstbildnis, scheint er mit aller Kraft dagegen anzuspielen. In ekstatischer Verrenkung steht der Gitarrist vor uns, den Power der Musik im ganzen Körper. Die Sinnlichkeit der Malerei unterstreicht die Lebendigkeit der Szene. Spätestens hier wird klar: Malen ist für Rolf Blaser Lebensbeweis, um in unlebendiger Welt nicht Figur zu bleiben, sondern sich als Mensch zu erfahren.

Christoph Vögele